PSYCHOPATHIA SEXDALIS

MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER

CONTßÄEEN SEXÜALEMPFINDUN6.

EINE

\ KLINISCH-FORENSISCHE STUDIE

\

VON

R. V. KRAFFT-EBING,

O. Ö. PROF. F. PSYCHIATRIE U. NERVENKRANKHEITEN A. D. K. K. UNIVERSITÄT GRAZ

\

Vierte vermehrte und theilweise iimgearheitete Auflage.

STUTTGART.

VERLAG VON FERDINAND ENKE. 1889.

Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart,"

f

Vorwort zar ersten Auflage.

Die wenigsten Menschen werden sich vollkommen des gewaltigen Einflusses bewusst, welchen im individuellen und im gesellschaft- lichen Dasein das Sexualleben auf Fühlen, Denken und Handeln ge- winht. Schiller in seinem Gedicht „Die Weltweisen“ erkennt diese Thatsache an mit den Worten: „Einstweilen bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, erhält sie das Getriebe durch Hunger und durch Liebe.“

Auffallenderweise hat auch von Seiten der Philosophen das sexuelle Leben eine nur höchst untergeordnete Würdigung erfahren.

Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Auf!., Bd. 2, p. 586 u. ff.) flndet es geradezu sonderbar, dass die Liebe bisher nur Stoff für den Dichter und , dürftige Untersuchungen bei Plato, Rousseau, Kant ausgenommen, nicht auch für den Philo- sophen war.

Was Schopenhauer und nach ihm der Philosoph des Unbe- wussten, E. V. Hartmann, über sexuelle Verhältnisse philosophiren, ist so fehlerhaft und in seinen Consequenzen so abgeschmackt, dass, abgesehen von den mehr als geistreiche Causeries, denn als wissen- schaftliche Abhandlungen zu betrachtenden Darstellungen eines Mi- chelet (L’amour) und Mantegazza (Physiologie der Liebe), so- wohl die empirische Psychologie als die Metaphysik der sexuellen Seite des menschlichen Daseins ein noch nahezu jungfräulicher wissenschaftlicher Boden sind.

Vorläufig dürften die Dichter bessere Psychologen sein, als die Psychologen und Philosophen von Fach, aber sie sind Gefühls- und nicht Verstandesmenschen und mindestens einseitig in der Betrach-

IV

Vorwort.

tung des Gegenstands. Sehen sie doch über dem Licht und der sonnigen Wärme des Stoffes, von dem sie Nahrung ziehen, nicht die tiefen Schatten. Mögen auch die Erzeugnisse der Dichtkunst aller Zeiten und Völker dem Monographen einer „Psychologie der Liebe“ unerschöpflichen StofiP bieten, so kann die grosse Aufgabe doch nur gelöst werden unter Mithülfe der Naturwissenschaft und speciell der Medicin, welche den psychologischen Stoff an seiner anatomisch-physiologischen Quelle erforscht und ihm allseitig ge- recht wird.

Vielleicht gelingt es ihr dabei, einen vermittelnden Standpunkt für die philosophische Erkenntniss zu gewinnen, der gleichweit sich entfernt von der trostlosen Weltanschauung der Philosophen, wie Schopenhauer und Hartmann ^), und der heiter naiven der Poeten.

Die Absicht des Verfassers geht nicht dahin, Bausteine zu einer Psychologie des Sexuallebens beizutragen, obwohl zweifelsohne wich- tige Erkenntnissquellen für die Psychologie aus der Psychopathologie sich ergeben dürften.

Der Zweck dieser Abhandlung ist die Kenntnissnahme , der pathologischen Erscheinungen des Sexuallebens und der Versuch ihrer Zurückführung auf gesetzmässige Bedingungen. Diese Auf- gabe ist eine schwierige und trotz vieljähriger Erfahrungen als Psychiater und Gerichtsarzt bin ich mir klar bewusst, nur Unvoll- kommenes bieten zu können.

.Die Wichtigkeit des Gegenstands für das öffentliche Wohl und speciell für das Forum gebietet gleichwohl, dass er wissenschaftlich untersucht werde. Nur wer als Gerichtsarzt in der Lage war, über Mitmenschen, deren Leben, Freiheit und Ehre auf dem Spiel stand, sein Urtheil abgeben zu müssen, und sich der Unvollkommen- heit unserer Kenntnisse auf dem pathologischen Gebiet des Sexual- lebens in peinlicher Weise klar wurde, vermag die Bedeutung eines Versuchs, zu leitenden Gesichtspunkten zu gelangen, voll zu würdigen.

Jedenfalls kommen auf dem Gebiet der sexuellen Delikte noch

*) Hartmann’s philosophische Anschauung von der Liehe in „Philo- sophie des Unbewussten“, Berlin 1869, p. 583, ist folgende: Die Liehe verur- sacht mehr Schmerz als Lust. Die Lust ist nur illusorisch. Die Vernunft würde gebieten, die Liebe zu meiden, wenn nicht der fatale Geschlechtstrieb wäre ergo wäre es am besten, wenn man sich castriren Hesse. Dieselbe Anschauung minus der Consequenz findet sich schon bei Schopenhauer: „Die Welt als Wille und Vorstellung“, 3. Aufl., Bd. 2 p. 586 u. ff.

Vorwort.

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die irrigsten Anschauungen zum Ausdrucke und werden die fehler- haftesten Urtheile geschöpft , gleichwie die Strafgesetzbücher und die öffentliche Meinung von ihnen beeinflusst erscheinen.

Wer die Psychopathologie des sexualen Lebens zum Gegen- stand einer wissenschaftlichen Abhandlung macht, sieht sich einer Nachtseite menschlichen Lebens und Elends gegenübei gestellt, in deren Schatten das glänzende Götterbild des Dichters zur scheuss- lichen Fratze wird und die Moral und Aesthetik an dem „Ebenbild Gottes“ irre werden möchten.

Es ist das traurige Vorrecht der Medicin und speciell der Psychiatrie, dass sie beständig die Kehrseite des Lebens, mensch- liche Schwäche und Armseligkeit, schauen muss.

Vielleicht gewinnt sie einen Trost in dem schweren Beruf und entschädigt sie den Ethiker und Aesthetiker, indem sie auf krank- hafte Bedingungen vielfach zurückzuführen vermag, was den ethi- schen und ästhetischen Sinn beleidigt. Damit übernimmt sie die Ehrenrettung der Menschheit vor dem Forum der Moral und der Einzelnen vor ihren Richtern und Mitmenschen. Pflicht und Recht der medicinischen Wissenschaft zu diesen Studien erwächst ihr aus dem hohen Ziel aller menschlischen Forschung und Wahrheit.

Der Verfasser macht den Ausspruch Tardieu’s (Des attentats aux moeurs): „Aucune misere physique ou morale, aucune plaie, quelque corrompue qu’elle soit, ne doit efifrayer celui qui s’est voue ä la Science de l’homme et le ministöre sacre du medecin, en l’obligeant a tout voir, lui permet aussi de tout dire“ zu dem seinigen.

Die folgenden Blätter wenden sich an die Adresse von Männern ernster Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Jurisprudenz. Damit jene nicht Unberufenen als Lektüre dienen, sah sich der Verfasser veranlasst, einen nur dem Gelehrten ver- ständlichen Titel zu wählen, sowie, wo immer möglich, in terminis technicis sich zu bewegen. Ausserdem erschien es geboten, einzelne besonders anstössige Stellen statt in deutscher, in lateinischer Sprache zu geben.

Möge der Versuch, über ein bedeutsames Lebensgebiet dem Arzt und Juristen Aufschlüsse zu bieten, wohlwollende Aufnahme Anden und eine wirkliche Lücke in der Literatur ausfüllen, die, ausser einzelnen Aufsätzen und Casuistik, nur die Theilgebiete behandelnden Schriften von Moreau und Tarnowsky aufweist.

Vorwort zur vierten Auflage.

Die vorliegende 4. Auflage bietet theilweise Umarbeitungen, vor Allem aber eine Bereicherung der Casuistik, die auf einem wissenschaftlich noch so wenig betretenen Gebiet sowohl für den Arzt als für den Juristen von Werth sein dürfte. Ganz besonders reichlich wurde mit neuen Beobachtungen versehen der die conträre Sexualempfindung behandelnde Theil des Buches. Gilt es doch hier vor Allem zu klaren Anschauungen über diese räthselhafte Anomalie zu gelangen und Kriterien aufzufinden, auf Grund welcher krank- hafte Perversion und lasterhafte Perversität sich scheiden lassen! In der vorliegenden Auflage ist zum erstenmal der Versuch gemacht, innerhalb des Ganzen der conträren Sexualempfindung 4 klinische Gruppen zu unterscheiden, die wahrscheinlich als ebenso viele Grad- stufen einer psycho-sexualen Entartung sich ausweisen werden. Praktisch von Werth und tröstlich ist die Erfahrung, dass in den niedersten Graden der Anomalie die ärztliche Kunst nach Umständen die krankhafte Veranlagung und Richtung günstig zu beeinflussen vermag. Noch viel wichtigere Gesichtspunkte ergeben sich überdies in prophylaktischer Hinsicht.

In der 3. Auflage nicht enthaltene Beobachtungen sind Nr. 5. 6. 8. 9. 18. 25. 31. 32. 42. 45. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 55. 61. 62. 63. 66. 67. 71. 73. 74. 75. 77. 79—82. Die fettgedruckten Nummern entsprechen bisher noch nicht veröffentlichten Beobach- tungen. Die anderen sind früheren und anderen Arbeiten des Verf. entlehnt.

Graz, 1. Mai 1889.

Der Verfasser.

Inhalt,

Seite

I. Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens 1

Mächtigkeit sexueller Triebe 1. Sexualer Trieb als Grundlage ethischer Gefühle 1. Liebe als Leidenschaft 2. Culturgeschichtliche Entwick- lung des Sexuallebens 2. Schamhaftigkeit 2. Chi-istenthum. Mono- gamie 4. Stellung des Weibs im Islam 4. Sinnlichkeit und Sittlich- keit 5. Culturelle Versittlichung des Sexuallebens 5. Ejjisoden sitt- lichen Niedergangs im Völkerleben 6. Entwicklung sexueller Gefühle beim Individuum. Pubertät 6. Sinnlichkeit und religiöse Schwär- merei 7. Sinnlichkeit und Kunst 8. Idealisirender Zug der ersten Liebe 8. Wahre Liebe 9. Sentimentalität 9. Platonische Liebe 9. Liebe und Freundschaft 9. Verschiedenheit der Liebe von Mann und Weib 10. Cölibat 11. Ehebruch 12. Ehe 12. Putzsucht 13.

II. Physiologische Thatsachen 14

Geschlechtsreife 14. Zeitliche Begränzung des Sexuallebens 14. Ge- schlechtssinn. Lokalisation? 15. Physiologische Entwicklung des Sexuallebens 15. Erection. Erectionscentrum 16. Geschlechtssphäre und Geruchssinn 17. Geisselung ein das Sexualleben erregender Ein- griff 18. Flagellantensecte 19. Beherrschung des Sexualtriebs 20. Cohabitation 20. Ejaculation 20.

III. Allgemeine Neuro- und Psychopathologie des Sexuallebens 22

Häufigkeit und Wichtigkeit pathologischer Erscheinungen 22. Schema der sexualen Neurosen 23. Reizzustände des Erectionscentrums 23. Lähmung desselben 23. Hemmungsvorgänge im Erectionscentrum 24, reizbare Schwäche desselben 24. Neurosen des Ejaculationscentrums 24. Cerebral bedingte Neurosen 25. Paradoxie d. h. Sexualtrieb ausser- halb der Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge 26. Ira Kindes- alter auftretender Geschlechtstrieb 26. Ini Greisenalter wieder er- wachender Trieb 27. Sexuelle Verirrungen bei Greisen, erklärt durch Impotenz und Demenz 28. Anaesthesia sexualis d. h. fehlender Geschlechtstrieb 30, als angeborene Anomalie 30, als erworbene 34. Hyperästhesie d. h. krankhaft gesteigerter Trieb 35. Bedingungen und Erscheinungen dieser Anomalie 36. Parästhesie der Sexual- empfindung oder Perversion des Geschlechtstriebs 42. Peiwersion und Peiwersität 43. Perverse sexuelle Akte aus combinirter Hyper- und Par-ästhesie 44. Lustmord. Mordlust 44. Wollust. Ander-

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Inhalt.

§0X^6

weitige Akte der Grausamkeit aus krankhafter Wollust bei Potenten 48. Schinden von Thieren 48. Flagelliren und Blutigstechen 49. Leichen- schändung 51. Perverse Handlungen als Aequivalente des Geschlechts- aktes bei schvracher oder fehlender Potenz 54. Erwürgen von Frauen 54. Mädchenschneider und Mädchenstecher 57. Passive Flagellation 59. Fetischisten 62. Exhibitionisten 71. Statuenschänder 73. Conträre Sexualempfindung als erworbene krankhafte dauernde Erscheinung 73. EfFeminatio 78. Mujerados 82. Wahnsinn der Skythen 82. Metamorphosis sexualis paranoica 83. Erworbene conträre Sexualempfindung als episodische Erscheinung während eines psychopathischen Zustands 86. Angeborene conträre Sexual- empfindung 86. Verschiedene khnische Formen derselben. All- gemeine Merkmale 90. Erklärungsversuche der Anomalie 92. Psychische Hennaphrodisie 96. Homosexuale oder Urninge 106. EfFeminatio und Viraginität 147. Androgyne und Gynandrier 175. Anderweitige Er- scheinungen sexueller Perversion bei conträr Sexualen 181.

IV. Specielle Pathologie 184

Die Erscheinungen krankhaften Sexuallebens in den verschiedenen Formen und Zuständen geistiger Störung 184. Psychische Entwick- lungshemmungen 184. Erworbene geistige Schwächezustände 186. Consecutive Geistesschwäche jnach Psychosen 187, nach Apoplexien 187, nach Kopfverletzung 188, auf Grund von Lues cerebralis 188. De- mentia paralytica 188. Epilepsie 190. Periodische Geistesstörung 196. Psychopathia sexualis periodica 197. Manie 199. Zeichen sexueller Erregung bei Manischen 199. Satyriasis 199. Nymphomanie 200. Chro- nische Satyriasis und Nymphomanie 200. Melancholie 201. Hysterie 201. Paranoia 202.

V. Das krankhafte Sexualleben vor dem Criminalforum 205

Gefahr sexueller Delikte für die allgemeine Wohlfahrt 205. Zuneh- mende Häufigkeit derselben 205. Muthmassliche Ursachen 206. Kli- nische Forschungen 206. Mangelhafte Würdigung solcher seitens der Juristen 206. Anhaltspunkte für die forensische Beurtheilung sexueller Delikte 207. Bedingungen der Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit 208. Indicien für die psychopathologische Bedeutung sexueller Delikte 209.

Die einzelnen sexuellen Delikte. Nothzucht und Lustmord 209. Unzucht mit Individuen unter 14 Jahren. Schändung 211. Unzucht wider die Natur 212. Thierschändung 212. Unzucht mit Personen des- selben Geschlechts. Päderastie 214. Die Päderastie im Lichte der Forschungen über conträre Sexualempfindung 214. Nothwendigkeit der Unterscheidung krankhafter und nicht krankhaft bedingter Pä- derastie 215. Forensische Beurtheilung der veranlagten conträren Sexualempfindung, sowie der erworbenen krankhaften 215. Denk- schrift eines Urnings 216. Die gezüchtete, nicht krankhafte Päderastie 220. Ursachen des Lasters 220. Art der sexuellen Triebrichtung bei den verschiedenen Catego rien conträrer Sexualempfindung 221. Paedicatio mulierum 222. Amor lesbicus 222. Nekrophilie 224. Incest 224. Un- sittliche Handlungen mit Pflegebefohlenen 226.

1. Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens.

Die Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist nicht dem Zu- fall oder der Laune der Individuen anheimgegeben, sondern durch einen Naturtrieb gewährleistet, der allgewaltig, übermächtig nach Erfüllung verlangt. In der Befriedigung dieses Naturdrangs er- gehen sich nicht nur Sinnengenuss und Quellen körperlichen Wohl- beflndens, sondern auch höhere Grefühle der Genugthuung, die eigene, vergängliche Existenz durch Vererbung geistiger und körperlicher Eigenschaften in neuen Wesen über Zeit und Raum hinaus fort- zusetzen. In der grob sinnlichen Liebe, in dem wollüstigen Drang, den Naturtrieb zu befriedigen , steht der Mensch auf gleicher Stufe mit dem Thier, aber es ist ihm gegeben, sich auf eine Höhe zu erheben, auf welcher nicht mehr der Naturtrieb ihn zum willen- losen Sklaven macht, das mächtige Fühlen und Drängen höhere, edlere Gefühle weckt, die, unbeschadet ihrer sinnlichen Entstehungs- quelle, eine Welt des Schönen, Erhabenen, Sittlichen erschliessen.

Auf dieser Stufe steht der Mensch über dem Trieb der Natur und schöpft aus der unversieglichen Quelle Stoif und Anregung zu höherem Genuss, zu ernster Arbeit und Erreichung idealer Ziele. Mit Recht bezeichnet Maudsley (Deutsche Klinik 1873, 2. 3) die geschlechtliche Empfindung als die Grundlage für die Entwicklung der socialen Gefühle. „Wäre der Mensch des Fortpflanzungstriebes beraubt und alles Dessen, was geistig daraus entspringt, so würde so ziemlich alle Poesie und vielleicht auch die ganze moralische Gesinnung aus seinem Leben herausgerissen sein.“

Jedenfalls bildet das Geschlechtsleben den gewaltigsten Factor

V. Krafft-Ebing, Psyohopathia sexualis. 4. Aufl. 1

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Culturelle Versittlichung des Sexuallebens.

im individuellen und im socialen Dasein, den mächtigsten Impuls zur Bethätigung der Kräfte , zur Erwerbung von Besitz , zur Grründung eines häuslichen Heerdes, zur Erweckung altruistischer Gefühle, zunächst gegen eine Person des anderen Geschlechts, dann gegen die Kinder und im weiteren Sinne gegenüber der gesammten mensch- lichen Gesellschaft.

So wurzelt in letzter Linie alle Ethik, vielleicht auch ein guter Theil Aesthetik und Religion in dem Vorhandensein geschlecht- licher Empfindungen.

Wie das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden werden kann, bis zur Aufopferung des eigenen Ich, so liegt in seiner sinnlichen Macht die Gefahr, dass es zur mächtigen Leiden- schaft ausarte und die grössten Laster entwickle.

Als entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan, der Alles versengt, verzehrt, einem Abgrund, der Alles verschlingt Ehre, Vermögen, Gesundheit.

Von hohem psychologischen Interesse erscheint es, die Ent- wicklungsphasen zu verfolgen, durch welche im Lauf der Cultur- entwicklung der Menschheit das Geschlechtsleben bis zu heutiger Sitte und Gesittung hindurchgegangen ist. ^ Auf primitiver Stufe erscheint die Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Menschen wie die der Thiere. Der geschlechtliche Akt entzieht sich nicht der Oeffentlichkeit und Mann und Weib scheuen sich nicht, nackt zu gehen. Auf dieser Stufe sehen wir (vgl. Floss, Das Weib, 1884, p. 196 u. ff.) heute noch wilde Völker, wie z. B. die Australier, Polynesier, Malayen der Philippinen. Das Weib ist Gemeingut der Männer, temporäre Beute des Mächtigsten, Stärksten. Dieser strebt nach den schönsten Individuen des anderen Geschlechts und erfüllt damit instinktiv eine Art geschlechtlicher Zuchtwahl.

Das Weib ist eine bewegliche Sache, eine Waare, ein Gegen- stand des Kaufs, Tauschs, der Schenkung, ein Werkzeug des Sinnengenusses, der Arbeit. Den Anfang einer Versittlichung des Geschlechtslebens bildet das Auftreten eines Schamgefühls bezüg- lich der Kundgebung und Bethätigung des Naturtriebs der Gesell- schaft gegenüber und die Schamhaftigkeit im Verkehr der- Ge- schlechter. Daraus entsprang das Bestreben, die Schamtheile zu verhüllen („Sie erkannten, dass sie nackt waren“) und sexuelle Akte abseits zu vollziehen.

') Vgl. Lombroso, „Der Verbrecher“ übers, v. Frankel p. 38 u. ff.

Sociale Stellung des Weibes.

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Die Entwicklung dieser Culturstufe wird begünstigt durch Kälte des Klimas und das dadurch geweckte Bedürfniss nach all- seitiger Bedeckung des Körpers. Daraus erklärt es sich zum Th eil, das hei nordischen Völkern die Schamhaftigkeit anthropologisch früher nachzuweisen ist als bei südlichen.

Ein weiteres Moment in der culturellen Entwicklung des Sexual- lebens ergibt sich damit, dass das Weib auf hört, bewegliche Sache zu sein. Es wird eine Person, und wenn auch lange noch social tief unter den Mann gestellt, entwickelt sich doch die Anschauung, dass dem Weibe ein Verfügungsrecht über sich und seine Liebes- gunst zustehe.

Damit wird es Gegenstand der Bewerbung des Mannes. Zu dem roh sinnlichen Gefühle geschlechtlicher Bedürfnisse gesellen sich Anfänge ethischer Empfindungen. Der Trieb wird durch- geistigt. Die Weibergemeinschaft hört auf. Die geschlechtlich differenten Einzelwesen fühlen sich durch geistige und körperliche Vorzüge zu einander hingezogen und erweisen nur einander Liebes- gunst. Auf dieser Stufe hat das Weib ein Gefühl, dass seine Reize nur dem Manne seiner Neigung gehören und ein Interesse daran, sie Anderen gegenüber zu Yerhüllen. Damit sind neben der Scham- haftigkeit die Grundlagen der Keuschheit und der sexuellen Treue solange der Liebesbund dauert gegeben.

Um so früher erreicht das Weib diese sociale Stufe da, wo mit dem Sesshaftwerden der Menschen aus früherem Nomadenleben ihnen ein Heim, ein Haus ersteht und für den Mann sich das Be- dürfniss ergibt, eine Lebensgefährtin für die Hauswirthschaft, eine Hausfrau in dem Weibe zu besitzen.

Diese Stufe haben unter den Völkern des Orients früh die alten Aegypter, die Israeliten und die Griechen, unter den Völkern des Abendlands die Germanen erreicht. Ueberall auf dieser Stufe findet sich die Werthschätzung der Jungfräulichkeit, Keuschheit, Schamhaftigkeit und sexuellen Treue , im Gegensatz zu anderen Völkern, die die Hausgenossin dem Gastfreund zum sexuellen Ge- nüsse bieten.

Dass diese Stufe der Versittlichung des sexuellen Lebens eine ziemlich hohe ist und viel später als manche andere culturelle Ent- wicklungsformen, z. B. ästhetische, sich einstellt, lehren die Japa- nesen, bei denen es Sitte ist, ein Weib nur zu ehelichen, nachdem es jahrelang in Theehäusern, die die Stelle der europäischen Pro- stitutionshäuser vertreten, gelebt hat, und bei denen das Nackt-

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Christenthum und Islam.

gehen des weiblichen Greschlechts nichts Anstössiges ist. Jeden- falls kann sich bei den Japanesen jedes unverheirathete Weib pro- stituiren, ohne an seinem Werth als künftige Frau Einbusse zu erleiden, wohl ein Beweis, dass bei diesem merkwürdigen Volke das Weib in der Ehe nur Genuss-, Procreations- und Arbeitswerth, aber keinen ethischen Werth besitzt.

Die Versittlich ung des sexuellen Verkehrs erfuhr ihren mäch- tigsten Impuls durch das Christenthum, indem dasselbe das Weib auf gleiche sociale Stufe mit dem Manne erhob und den Liebesbund zwischen Mann und Weib zu einer religiös - sittlichen Institution gestaltete. Damit war der Thatsache entsprochen, dass die Liebe des Menschen auf höherer Civilisationsstufe nur eine monogamische sein kann und sich auf einen dauernden Vertrag stützen muss. Mag auch die Natur bloss Fortpflanzung fordern, so kann ein Ge- meinwesen (Familie oder Staat) nicht bestehen ohne Garantie, dass das Erzeugte physisch, moralisch und intellectuell gedeihe. Durch die Gleichstellung des Weibes mit dem Manne, durch die Statuirung der monogamischen Ehe und ihre Festigung durch rechtliche, reli- giöse und sittliche Bande erwuchs den christlichen Völkern eine geistige und materielle Superiorität über die polygamischen Völker, speciell über den Islam.

Wenn auch Mohamed das Weib in seiner Stellung als Sklavin und Werkzeug des Sinnengenusses zu heben, social und ehelich auf eine höhere Stufe zu stellen bestrebt war, so blieb dasselbe in der islamitischen Welt dennoch tief unter den Mann gestellt, dem allein die Ehescheidung möglich und überdies sehr leicht ge- macht war.

Unter allen Umständen schloss der Islam das Weib von der Bethätigung am öffentlichen Leben aus und hinderte damit seine inteUectuelle und sittliche Fortentwicklung. Dadurch blieb das muselmännische Weib wesentlich Mittel zum Sinnengenuss und zur Erhaltung der Race, während die Tugenden und Fähigkeiten des christlichen Weibes als Hausfrau, Erzieherin der Kinder, gleich- berechtigte Gefährtin des Mannes, sich herrlich entfalten konnten. So stellt sich der Islam mit seiner Polygamie und seinem Harem- leben in grellen Contrast zur Monogamie und dem Familienleben der christlichen Welt.

Derselbe Contrast macht sich bei einem Vergleich der beiden Religionen auch bezüglich der Vorstellungen vom Jenseits geltend, das dem christlichen Gläubigen unter dem Bilde eines von aller

Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Culturelle Versittlichung.

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irdischen Sinnlichkeit befreiten, rein geistige Wonnen verheissenclen Paradieses sich darstellt, während die Phantasie des Muselmanns in Bildern eines wollüstigen Haremlebens mit herrlichen Houris sich das Jenseits ausmalt.

Trotz aller Hülfen, die Religion, Gesetz, Erziehung und Sitte dem Culturmenschen in der Zügelung seiner sinnlichen Triebe an- gedeihen lassen, läuft derselbe jederzeit Gefahr, von der lichten Höhe reiner und keuscher Liebe in den Sumpf gemeiner Wollust herabzusinken.

Um sich auf jener Höhe zu behaupten, bedarf es eines be- ständigen Kampfes zwischen Naturtrieb und guter Sitte, zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Nur willensstarken Charakteren ist es gegeben, sich ganz von der Sinnlichkeit zu emancipiren und jener reinen Liebe theilhaftig zu werden, aus der die edelsten Freuden menschlichen Daseins erblühen.

Man kann darüber streiten, ob die Menschheit im Verlauf der letzten Jahrhunderte sittlicher geworden ist. Zweifelsohne ist sie schamhafter geworden, und diese civilisatorische Erscheinung des Verbergens sinnlich-thierischer Bedürfnisse ist wenigstens eine Con- cession, welche das Laster der Tugend macht.

Aus der Lektüre des Werkes von Scherr (Deutsche Cultur- geschichte) wird Jeder den Eindruck gewinnen, dass unsere sitt- lichen Anschauungen gegenüber denen des Mittelalters geläuterte geworden sind, wenn auch zugegeben werden muss, dass vielfach an die Stelle früherer ünfläthigkeit und Rohheit des Ausdrucks nur feinere Sitten ohne grössere Sittlichkeit getreten sind.

Vergleicht man weiter auseinander liegende Zeitabschnitte und Culturperioden, so kann kein Zweifel obwalten, dass die öffentliche Moral, trotz episodischer Rückschläge, einen unaufhaltsamen Auf- schwung innerhalb der Culturentwicklung nimmt und dass einen der mächtigsten Hebel auf der Bahn des sittlichen Fortschritts das Christenthum darstellt.

Wir sind heutzutage doch weit erhaben über jene sexuellen Zustände, wie sie sich in dem sodomitischen Götterglauben, dem Volksleben, der Gesetzgebung und den religiösen Hebungen der alten Griechen ausprägten, ganz zu schweigen von dem Phallus- und Priapuskult der Athener und Babylonier, von den Bacchanalien . des alten Roms und der bevorzugten öffentlichen Stellung , welche die Hetären bei jenen Völkern einnahmen.

Innerhalb des langsamen, oft unmerklichen Aufschwungs, welchen

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Episoden sittlicher Rückschläge.

menscliliche Sitte und Gesittung nimmt, zeigen sich Schwankungen, Fluktuationen, gleichwie im individuellen Dasein die sexuale Seite ihre Ebbe und Fluth aufweist.

Episoden des sittlichen Niedergangs im Leben der Völker fallen jeweils zusammen mit Zeiten der Verweichlichung, der Ueppigkeit und des Luxus. Diese Erscheinungen sind nur denkbar mit ge- steigerter Inanspruchnahme des Nervensystems, das für das Plus an Bedürfnissen aufkommen muss. Im Gefolge üherhandnehmender Nervosität erscheint eine Steigerung der Sinnlichkeit, und indem sie zu Ausschweifungen der Massen des Volks führt, untergräbt sie die Grundpfeiler der Gesellschaft, die Sittlichkeit und Reinheit des Familienlebens. Sind durch Ausschweifung, Ehebruch, Luxus jene unterwühlt, dann ist der Zerfall des Staatslebens, der materielle, moralische, politische Ruin eines solchen unvermeidlich. Warnende Beispiele in dieser Hinsicht sind der römische Staat, Griechenland, Frankreich unter Louis XIV. und XV. In solchen Zeiten des staatlichen und sittlichen Verfalls traten vielfach geradezu monströse Verirrungen des sexuellen Trieblebens auf, die jedoch zum Theil auf psycho- oder wenigstens neuro-pathologische Zustände in der Bevölkerung sich zurückführen lassen.

Dass die Gressstädte Brutstätten der Nervosität und entarteten Sinnlichkeit sind, ergibt sich aus der Geschichte von Babylon, Ninive, Rom, gleichwie aus den Mysterien des modernen gross- städtischen Lebens. Bemerkenswerth ist die Thatsache, welche aus der Lektüre des Ploss’schen Werks hervorgeht, nämlich, dass Verirrungen des Geschlechtstriebs (ausser bei den Aleuten, ferner in Gestalt von Masturbation bei den Orientalinnen und den Nama- Hottentottinnen) bei un- oder halbcivilisirten Völkern nicht ver- kommen ^).

Die Erforschung des sexuellen Lebens des Individuums hat mit dessen Entwicklung in der Pubertät zu beginnen und dasselbe in seinen verschiedenen Phasen bis zum Erlöschen sexualer Em- pfindungen zu verfolgen.

Schön schildert Mantegazza in seiner „Physiologie der Liebe“ das Sehnen und Drängen des erwachenden Geschlechtslebens, von

*) Vgl. Friedländer, Sittengeschichte Roms. Wiedemeister, Der Cäsarenwahnsinn. Suetonius. Moreau, Des aberrations du sens genesique.^ Diese Angaben stehen aber im Widerspruch mit Friedreich (Hdb. d. gerichtsärztl. Praxis 1843, I. p. 271), nach welchem Päderastie bei den Wilden Amerikas sehr häufig verkommen soll, ferner mit Lombroso (op. cit. p. 42).

Entwicklung des Sexuallebens. Pubertät.

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dem Ahnungen, unklare Empfindungen und Dränge aber weit über die Epoche der Pubertätsentwicklung zurückreicben. Diese Epoche ist wohl die psychologisch bedeutsamste. An dem reichen Zuwachs an Gefühlen und Ideen, welche sie weckt, lässt sich die Bedeutung des sexuellen Factors für das physische Leben überhaupt ermessen.

Jene anfangs dunklen, unverständlichen Dränge, entstanden aus den Empfindungen, welche bisher unentwickelte Organe im Bewusstsein wachriefen, gehen mit einer mächtigen Erregung des Gefühlslebens einher. Die psychologische Reaktion des Sexual- triebs in der Pubertät gibt sich in mannigfachen Erscheinungen kund, denen nur gemeinsam der affektvolle Zustand der Seele ist und der Drang, den fremdartigen Gefühlsinhalt in irgend einer Form auszuprägen, zu objektiviren. Naheliegende Gebiete sind die Religion und die Poesie , die selbst , nachdem die Zeit der sexuellen Entwicklung vorüber und jene ursprünglich unverstandenen Stim- mungen und Dränge abgeklärt sind, mächtige Förderungen aus der sexualen Welt erfahren. Wer daran zweifeln wollte, möge be- denken, wie oft religiöse Schwärmerei im Pubertätsalter vorkommt, wie häufig in dem Leben der Heiligen sexuelle Anfechtungen sind, wie mächtig die Sinnlichkeit in den Krankengeschichten von religiös Wahnsinnigen sich geltend macht und in welch widerliche Scenen, wahre Orgien, die religiösen Feste der alten Welt, nicht

h Vgl. P riedreich, gerichtl. Psychologie p. 389, der zahlreiche Beispiele gesammelt hat. So quälte die Nonne Blanbekin unaufhörlich der Gedanke, was aus dem Theil geworden sein möge, der bei der Beschneidung Christi verloren ging.

Die von Papst Pius II. selig gesprochene Veronica Juliani nahm aus An- dacht zum göttlichen Lämmlein ein irdisches Lämmlein ins Bett, küsste das Lamm , liess es an ihren Brüsten saugen und gab auch einige Tropfen Milch von sich.

Die hl. Catharina von Genua litt oft an einer solchen inneren Hitze, dass sie, um sich abzukühlen, sich auf die Erde legte und schrie : „Liebe, Liebe, ich kann nicht mehr!“ Dabei fühlte sie eine besondere Zuneigung zu ihrem Beicht- vater. Eines Tages führte sie dessen Hand an ihre Nase und empfand dabei einen Geruch, der ihr in das Herz drang, „einen himmlischen Geruch, dessen Annehmlichkeit Todte erwecken könnte“.

Von einer ähnlichen Brunst waren die hl. Armelle und die hl. Elisabeth vom Kinde Jesu gequält. Bekannt sind die Versuchungen des hl. Antonius von Padua. Bezeichnend ist ein altes Gebet: „0 dass ich dich gefunden hätt’, holdseligster Emanuel, o hätt’ ich dich in meinem Bett, des freute sich mein Leib und Seel. Komm, kehre willig bei mir ein; mein Herz soll deine Kammer sein!“

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Erste Liebe. Wahre und sentimentale Liebe.

minder die Meetings gewisser Sekten der Neuzeit ausarteten, ganz zu geschw eigen der wollüstigen Mystik, die in den Culten der alten Völker sicli findet. Umgekehrt sehen wir, dass nicht be- friedigte Sinnlichkeit gar häufig in religiöser Schwärmerei ein Aequivalent sucht und findet ^).

Nicht minder einflussreich erweist sich der sexuelle Factor auf die Weckung ästhetischer Gefühle. Was wäre die bildende Kunst und die Poesie ohne sexuelle Grundlage! In der (sinnlichen) Liehe gewinnt sie jene Wärme der Phantasie, ohne die eine wahre Kunst- schöpfung nicht möghch ist, und in dem Feuer sinnlicher Gefühle erhält sich ihre Gluth und Wärme. Damit begreift sich, dass die grossen Dichter und Künstler sinnliche Naturen sind.

Diese Welt der Ideale eröffnet sich mit dem Auftreten se- xueller Entwicklungsvorgänge. Wer in dieser Lebensperiode nicht für Grosses, Edles, Schönes sich begeistern konnte, bleibt ein Philister sein Leben lang. Schmiedet doch selbst der nicht zum Dichter Veranlagte in dieser Epoche Verse!

Auf der Gränze physiologischer Reaktion stehen Vorgänge in der Pubertätsentwicklung, wo jene unklaren, sehnsüchtigen Stim- mungen sich in selbst- und weltschmerzlichen Anwandlungen bis zum Taedium vitae ausprägen, vielfach mit Lust, Anderen wehe zu thun (schwache Analogien eines psychologischen Zusammenhangs zwischen W oUust und Grausamkeit) , einhergehen.

Die Liebe der ersten Jugend hat einen romantischen ideali- sirenden Zug. Sie verklärt den Gegenstand der Liebe bis zur Apotheose. In ihren ersten Anfängen ist sie eine platonische und wendet sich gern Gestalten der Poesie, Geschichte zu. Mit Er- wachen der Sinnlichkeit läuft sie Gefahr, ihre idealisirende Macht auf Personen anderen Geschlechts zu übertragen, die geistig, körper- lich und social nichts weniger als hervorragend sind. Daraus können Mesalliancen, Entführungen, Fehltritte entstehen mit der ganzen Tragik der leidenschaftlichen Liebe, die in Conflict geräth mit den Satzungen der Sitte und Herkunft und zuweilen im Selbstmord oder Doppelselbstmord ihren düsteren Abschluss findet.

Die allzu sinnliche Liebe kann nie eine dauernde und rechte Liebe sein. Deshalb ist die erste Liebe in der Regel eine höchst flüchtige, weil sie nichts Anderes ist, als das Auf lodern einer Leidenschaft, ein Strohfeuer.

b Vgl. Friedreich, Diagnostik der psych. Krankheiten p. 247 u. ff, Neumann, Lehrb. d. Psychiatrie p. 80.

Platonische Liebe. Sexualempfinclung und Selbstgefühl.

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Nur diejenige Liebe , welche sieb auf die Erkenntniss der sitt- lichen Vorzüge der geliebten Person stützt, die nicht bloss Freuden gewärtigt, sondern auch Leiden um jener willen zu tragen gewillt ist und für sie Alles aufzuopfern vermag, diese ist die wahre Liebe. Die Liebe des stark veranlagten Menschen scheut vor keiner Schwierigkeit und Grefahr zurück, wenn es gilt, den Besitz der ge- liebten Person zu erringen und zu behaupten.

Thaten des Heroismus, der Todesverachtung, sind ihre Lei- stungen. Eine solche Liebe läuft aber Gefahr, nach Umständen zum Verbrechen zu gelangen, wenn die sittliche Grundlage keine feste ist. Ein hässlicher Flecken dieser Liebe ist die Eifersucht. Die Liebe des schwach veranlagten Menschen ist eine sentimentale. Sie führt nach Umständen zu Selbstmord, wenn sie nicht erwiedert wird oder Hindernisse findet, während unter gleichen Verhältnissen der stark Veranlagte zum Verbrecher werden konnte.

Die sentimentale Liebe läuft Gefahr, zur Karikatur zu werden, namentlich da, wo das sinnliche Element kein starkes ist (die Ritter Toggenburg, Don Quixote, viele Minnesänger und Troubadours des Mittelalters).

Solche Liebe hat einen faden, süsslichen Beigeschmack. Sie kann damit geradezu lächerlich werden, während sonst die Aeusse- rungen dieses mächtigsten Gefühls in der Menschenbrust Mitgefühl, Achtung, Grauen, je nach Umständen, erwecken.

Vielfach wird jene schlaffe Liebe auf äquivalente Gebiete ge- drängt — auf Poesie, die aber dann eine süssliche ist, auf Aesthe- tik, die sich als outrirte erweist, auf Religion, in welcher sie der Mystik und religiösen Schwärmerei, bei stärkerer sinnlicher Grund- lage aber dem Sektenwesen bis zum religiösen Wahnsinn, anheimfällt. Von all Dem hat die unreife Liebe des Pubertätsalters etwas an sich. Lesbar aus jener Zeit des Dichtens und Reimens sind nur die Verse des Dichters von Gottes Gnaden.

Bei aller Ethik, deren die Liebe bedarf, um sich zu ilirer wahren und reinen Gestalt zu erheben, bleibt ihre stärkste Wurzel gleichwohl die Sinnlichkeit.

Platonische Liebe ist ein Unding, eine Selbsttäuschung, eine falsche Bezeichnung für verwandte Gefühle.

Insofern die Liebe ein sinnliches Verlangen zur Voraussetzung hat, ist sie nur denkbar nornialiter zwischen geschlechtsverschie- denen und zu geschlechtlichem Verkehr fähigen Individuen. Fehlen

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Liebe des Mannes gegenüber der des Weibes.

diese Bedingungen, oder gehen sie verloren, so tritt an die Stelle der Liebe die Freundschaft.

Bemerkenswerth ist die Rolle, welche für die Entstehung und die Erhaltung des Selbstgefühls beim Manne das Verhalten seiner sexuellen Functionen spielt. An der Einbusse von Männlichkeit und Selbstvertrauen, die der nervenschwache Onanist und der im- potent gewordene Mann bieten, lässt sich die Bedeutung jenes Factors ermessen.

Psychologisch weniger einschneidend, aber doch merklich ist die Situation bei dem Weibe, das seine geschlechtliche Rolle aus- gespielt hat, indem es zur Matrone geworden ist. War die nun historisch gewordene Periode des Greschlechtslebens eine befriedigende, erfreuen Kinder das Herz der alternden Mutter, so kommt ihr der Wechsel ihrer biologischen Persönlichkeit kaum zum Bewusstsein. Anders ist die Situation da, wo Sterilität, oder durch die Umstände auferlegte Abstinenz von dem natürlichen Beruf des Weibes, jenes Glück versagten.

Diese Thatsachen sind geeignet, die Differenzen, welche in der Psychologie des Sexuallebens zwischen Mann und Weib bestehen, die Verschiedenheit des sexuellen Fühlens und Verlangens bei beiden in ein helles Licht zu setzen.

Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches Bedürfniss als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Natur- trieb, begehrt er von einem gewissen Alter an ein Weib. Er liebt sinnhch, wird in seiner Wahl bestimmt durch körperliche Vorzüge. Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung. Gleichwohl füllt das Gebot der Natur nicht sein ganzes psychisches Dasein aus. Ist sein Ver- langen erfüllt, so tritt seine Liebe temporär hinter anderen vitalen und socialen Interessen zurück.

Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohl- erzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Fa- milie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Manu, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, ab- norme Erscheinungen.

Das Weib wird um seine Gunst umworben. Es verhält sich passiv. Es liegt dies in seiner sexualen Organisation und nicht bloss in den auf dieser fussenden Geboten der guten Sitte begründet.

Gleichwohl macht sich in dem Bewusstsein des Weibes das

Liebe des Weibes. Cölibat.

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sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. Das Be- dürfhiss nach Liebe ist grösser als bei diesem, continuirlich , nicht episodisch, aber diese Liebe ist eine mehr geistige als sinnliche. Während der Mann zunächst das Weib und in zweiter Linie die Mutter seiner Kinder liebt, findet sich im Bewusstsein des Weibes im Vordergrund der Vater ihres Kindes und dann erst der Mann als Gatte. Das Weib wird in der Wahl des Lebensgefährten viel mehr durch geistige als durch körperliche Vorzüge bestimmt. Nachdem es Mutter geworden ist, theilt es seine Liebe zwischen Kind und Gatten. Vor der Mutterliebe schwindet die Sinnlichkeit. In dem ferneren ehelichen Umgang findet die Frau weniger eine sinnliche Befriedigung, als einen Beweis der Liebe und Zuneigung '■des Gatten.

Das Weib liebt mit ganzer Seele. Liebe ist ihm Leben, dem Manne Genuss des Lebens. Unglückliche Liebe schlägt diesem eine Wunde. Dem Weibe kostet sie das Leben oder wenigstens das Lebensglück. Es wäre eine des Nachdenkens werthe psycho- logische Streitfrage, ob ein Weib zweimal in seinem Leben wahr- haft lieben kann. Jedenfalls ist die seelische Richtung des Weibes eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt.

In der Mächtigkeit sexueller Bedürfnisse liegt die Schwäche des Mannes dem Weibe gegenüber. Er geräth in Abhängigkeit von dem Weibe und zwar um so mehr, je schwächer und sinn- licher er wird. Dies wird er in dem Masse, als er neuropathisch wird. So begreift sich die Thatsache, dass in Zeiten der Er- schlaffung und Genusssucht die Sinnlichkeit üppig gedeiht. Dann entsteht aber die Gefahr für die Gesellschaft, dass Maitressen und ilir Anhang den Staat regieren und dieser zu Grunde geht. (Die Maitressenwirthschaft am Hofe Ludwigs XIV. und XV., die Hetären des alten Griechenlands.)

Die Biographie so mancher Staatsmänner aus alter und neuer Zeit lehrt, dass sie Weiberknechte waren in Folge ihrer grossen Sinn- lichkeit, die wieder ihren Grund hatte in neuropathischer Constitution.

Es ist ein Zug feiner psychologischer Kenntniss des Menschen, dass die katholische Kirche ihre Priester zur Keuschheit (Cölibat) verpflichtet und damit von der Sinnlichkeit zu emancipiren trachtet, um sie ganz den Zwecken ihres Berufs zu erhalten.

Schade nur, dass der im Cölibat lebende Priester der ver- edelnden Wirkung verlustig wird, welche Liebe und dadurch Ehe auf die Entwicklung des Charakters gewinnen.

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Ehebruch. Ehe. Schamhaftigkeit.

Da dem Manue durch die Natur die Rolle des agressiveii Theils im sexuellen Leben zufällt, läuft er Gefahr, die Gränzen, welche ihm Sitte und Gesetz gezogen haben, zu überschreiten.

Unendlich schwerer fällt moralisch ins Gewicht und xiel schwerer sollte gesetzlich wiegen der Ehebruch des Weibes gegenüber dem vom Manne begangenen. Die Ehebrecherin entehrt nicht nur sich, sondern auch den Mann und die Familie, abgesehen davon, dass es heisst : Pater incertus. Naturtrieb und gesellschaftliche Stellung bringen den Mann leicht zu Fall, während dem Weibe Vieles Schutz gewährt.

Auch bei dem unverheiratheten Weibe ist sexueller Umgang etwas ganz Anderes als beim Manne. Die Gesellschaft verlaust vom ledigen Manne Sittsamkeit, vom Weibe zugleich Keuschheit. Auf der Culturhöhe des heutigen gesellschaftlichen Lebens ist eine socialen sittlichen Interessen dienende sexuale Stellung des Weibes nur als Ehefrau denkbar.

Das Ziel und Ideal des Weibes, auch des in Schmutz und Laster verkommenen, ist und bleibt die Ehe. Das Weib, wie Mantegazza richtig bemerkt, begehrt nicht bloss Befriedigung sinnhcher Triebe, sondern auch Schutz und Unterhalt für sich und seine Kinder. Der noch so sinnliche Mann von besserem Gefühl verlangt ein Weib zur Ehe, das keusch war und ist.

Schild und Zierde des Weibes in der Anstrebung dieses seiner einzig würdigen Ziels ist die Schamhaftigkeit. Mantegazza be- zeichnet sie fein als „eine der Formen der physischen Selbst- achtung“ beim Weibe.

Zu einer anthropologisch-historischen Untersuchung über die Entwicklung dieses schönsten Schmuckes des Weibes ist hier nicht der Ort. Wahrscheinlich ist weibliche Schamhaftigkeit eine erblich gezüchtete Frucht der Culturentwicklung.

Wunderlich steht mit ihr im Contrast eine gelegentliche Preis- gebung von körperlichen Reizen, die, unter dem Gesetz der Mode und conventioneil sanktionirt, selbst die züchtigste Jungfrau im Ballsaal sich gefallen lässt. Die ausstellerischen Gründe dafür sind naheliegend. Glücklicherweise kommen sie dem keuschen Mädchen nicht zum Bewusstsein.

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern zeigt die Frauenwelt das Bestreben, sich zu schmücken und Reize zu entfalten. In der Thierwelt hat die Natur das Männchen durchweg mit grösserer Schönheit ausgezeichnet. Die Männerwelt bezeichnet die Weiber

Putzsucht. Coquetterie.

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als das schöne Geschlecht. Diese Galanterie entspringt offenbar dem sinnlichen Bedürfniss der Männer. Solang'e dieses Sichschmücken Selbstzweck ist, oder der wahre psychologische Grund des Gefallen- wollens dem Weibe unbewusst bleibt, ist dagegen nichts einzu- wenden. In bewusster Bethätigung nennt man dieses Bestreben Gefallsucht.

Der putzsüchtige Mann wird unter allen Umständen lächerlich. An dem Weibe ist man diese kleine Schwäche gewöhnt und findet nichts dabei, solange sie nicht Theilerscheinung eines Ganzen ist, für das die Franzosen das Wort Coquetterie erfunden haben.

Die Frauen sind den Männern in der natürlichen Psychologie der Liebe weit überlegen, theils hereditär und durch Erziehung, da das Gebiet der Liebe ihr eigentliches Element ist, theils weil sie feinfühliger sind (Mantegazza).

Selbst auf der Höhe der Gesittung kann dem Manne nicht verübelt werden, dass er im Weibe zunächst den Gegenstand für die Befriedigung seines Naturtriebes erkennt. Aber es erwächst ihm die Verpflichtung, nur dem Weibe seiner Wahl anzugehören. Im Rechtsstaat wird daraus ein bindender sittlicher Vertrag, die Ehe, und insofern das Weib für sich und die Nachkommenschaft Schutz und Unterhalt benöthigt, ein Eherecht.

II. Physiologische Thatsachen.

Innerhalb der Zeit anatomisch -physiologischer Vorgänge in den Generations- drüsen finden sich im Bewusstsein des Individuums Dränge vor, zur Erhaltung der Gattung beizutragen (Geschlechtstrieb).

Der Sexualtrieb in diesem Alter der Geschlechtsreife ist ein physiologi- sches Gesetz.

Die Zeitdauer der anatomisch-physiologischen Vorgänge in den Sexual- organen, gleichwie die Stärke des sich geltend machenden Sexualtriebes ist bei Individuen und Völkern verschieden. Race, Klima und sociale Verhältnisse sind darauf von entscheidendem Einfiuss. Während beim Weibe der nördlichen Länder die Ovulation, erkennbar an der Entwicklung des Körpers und dem Auftreten periodisch wiederkehrender Blutflüsse aus den Genitalien (Menstrua- tion), gewöhnlich erst um das 13. bis 15. Lebensjahr erscheint, beim Manne die Pubertätsentwicklung (erkennbar am Tieferwerden der Stimme, Entwicklung von Haaren im Gesicht und am Mons veneris, an zeitweise auftretenden Pollu- tionen etc.) erst vom 15. Jahre an bemerklich wird, tritt die geschlechtliche Entwicklung bei den Bewohnern südlicher Länder um mehrere Jahre früher ein, beim Weibe zuweilen schon im 8. Jahre.

Bemerkens werth ist, dass Stadtmädchen sich um etwa 1 Jahr früher ent- wickeln als Landmädchen, und dass, je grösser die Stadt ist, um so früher ceteris paribus die Entwicklung erfolgt.

Beim Weibe ist die Zeit der Thätigkeit der Generationsdrüsen enger be- gränzt als beim Manne, bei dem die Spermabereitung bis ins höchste Alter fortdauern kann. Beim Weibe hört die Ovulation etwa 30 Jahre nach ein- getretener Mannbarkeit auf. Diese Periode der versiegenden Thätigkeit der Ovarien heisst der Wechsel (Klimacterium). Diese biologische Phase stellt nicht einfach eine Ausserfunctionssetzung und schliessliche Atrophie der Generations- organe dar, sondern einen Umwandlungsprocess des gesammten Organismus. Der Sexualtrieb besteht eontinuirlich in der Zeit des Geschlechtslebens mit wandelbarer Intensität. Er tritt unter physiologischen Bedingungen niemals

Localisation und Entwicklung des Sexualtriebs.

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intermittirend (periodisch) zu Tage, wie beim Thier. Beim Manne schwankt seine Intensität organisch auf und nieder mit der Ansammlung und Veraus- gabung von Sperma; beim Weibe fallen die Steigerungen des Trieblebens mit dem Process der Ovulation zusammen, und zwar so, dass postmenstrual die Libido sexualis am grössten ist.

Der Sexualtrieb als Fühlen, Vorstellen und Drang ist eine Leistung der Hirnrinde. Ein Territorium in dieser, das ausschliesslich sexuale Empfindungen und Dränge vermittelte (Centrum i) eines Geschlechtssinns) , ist bis jetzt nicht nachgewiesen.

Die nahen Beziehungen, in welchen Sexualleben und Geruchssinn mit ein- ander stehen, lassen vermuthen, dass sexuelle und Olfactoriussphäre in der Hirnrinde einander räumlich nahe sind. Die Entwicklung des Sexuallebens nimmt ihren Anfang aus Organempfindungen der sich entwickelnden Sexual- drüsen. Jene erregen die Aufmerksamkeit des Individuums. Lektüre, Wahr- nehmungen im öffentlichen Leben (heutzutage leider viel zu früh und häufig) führen die Ahnungen in deutliche Vorstellungen über. Diese werden von orga- nischen Gefühlen und zwar Lust-(Wollust-)gefühlen betont. Mit der Betonung erotischer Vorstellungen durch Lustgefühle entwickelt sich ein Drang zur Her- vorrufung solcher (Geschlechtstrieb).

Es entwickelt sich nun eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Hirnrinde (als Entstehungsort der Empfindungen und Vorstellungen) und den Generations- organen. Diese lösen durch anatomisch-physiologische Vorgänge (Hyperämie, Spermabereitung, Ovulation) sexuelle Vorstellungen, Bilder und Dränge aus.

Die Hirnrinde wirkt durch appercipirte oder reproducirte sinnliche Vor- stellungen auf die Generationsorgane (Hyperämisirung , Samenbereitung, Erec- tion, Ejaculation). Dies geschieht durch Centra der Gefässinnervation und Ejaculation, die im Lendenmark und jedenfalls einander räumlich nahe sich befinden. Beide sind Reflexcentren.

Das Centrum erectionis (Goltz, Eckhard) ist eine zwischen Gehirn und Genitalapparat eingeschaltete Zwischenstation. Die Nervenbahnen, welche es mit dem Gehirn in Verbindung setzen, laufen wahrscheinlich durch die Pedun- culi cerebri und die Brücke. Dieses Centrum vermag durch centrale (psychische und organische) Reize, durch direkte Reizung seiner Bahnen in Pedunculis cerebri, Pons, Cervicalmark , sowie durch periphere Reizung sensibler Nerven (Penis, Clitoris und Annexa) in Erregung zu gerathen. Dem Einfluss des Willens ist es direkt nicht unterworfen.

Die Erregung dieses Centrums wird durch in der Bahn des ersten bis dritten Sacralnerven verlaufende Nerven (Nervi erigentes Eckhard) zu den Corpp. cavernosa fortgeleitet.

Die Thätigkeit dieser die Erection vermittelnden Nn. erigentes ist eine hemmende. Sie hemmen den gangliären Innervationsapparat in den Schwell-

') Bei den nahen Beziehungen, in welchen Geschlechtssinn und Geruchs- sinn stehen, wäre das Centrum für jenen in der Nähe des Riechcentrums zu suchen. Dieses vermuthet Ferrier (Functionen des Gehirns) in der Gegend des Gyr. uncinatus. Zuckerkandl, „Heber das Riechcentrum“ 1887, vindicirt aus vergleichend anatomischen Forschungen dem Ammonshorn die Zugehörig- keit zum Riechcentrum.

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Centrum erectionis.

körpern, unter dessen Abhängigkeit die glatten Muskelfasern der Corpp. caver- nosa stehen (Kölliker und Kohlrausch). Unter dein Einfluss der Thätigkeit der Nn. erigentes werden die glatten Muskelfasern der Schwellkörper erschlafft und deren Räume mit Blut erfüllt. Gleichzeitig wird durch die erweiterten Arterien des Rindennetzes der Schwellkörper ein Druck auf die Venen des Penis geübt und der Rückfluss des Blutes aus dem Penis gehemmt. Unterstützt wird diese Wirkung durch Contraction der Mm. bulbo- und ischio-cavernosus, die sich aponeurotisch auf der Rückenfläche des Penis ausbreiten.

Das Erectionscentrum steht unter dem Einfluss von erregenden, aber auch von hemmenden Innervationen Seitens des Grosshirns. Erregend wirken Vor- stellungen und Sinneswahrnehmungen sexualen Inhalts. Nach Erfahrungen bei Erhängten scheint das Erectionscentrum auch durch Erregung der Leitungs- bahnen im Rückenmark in Thätigkeit treten zu können. Dass dies auch durch organische Reizvorgänge in der Hirnrinde (psychosexuales Centrum?) möglich ist, lehren Beobachtungen an Hirn- und Geisteskranken. Direkt kann das Erectionscentrum in Erregung versetzt werden durch das Lumbalmark treffende Rückenmarkserkrankungen (Tabes, überhaupt Myelitis) in frühen Stadien.

Eine reflectorisch bedingte Erregung des Centrums ist durch Reizung der (peripheren) sensiblen Nerven der Genitalien und der Umgebung derselben durch Friction, durch Reizung der Harnröhre (Gonorrhoe), des Rectum (Hämorrhoiden, Oxyuris), der Blase (Füllung durch Urin, besonders Morgens, Reizung durch Blasenstein), durch Füllung der Samenblasen mit Sperma, durch in Folge von Rückenlage und Druck der Eingeweide auf die Blutgefässe des Beckens ent- standene Hyperämie der Genitalien möglich